Spoiler-Hinweis: Der folgende Text enthält u.a. Aussagen zur Handlung des Films Arrival, die die Spannung beim erstmaligen Betrachten beeinträchtigen können.
In der kritischen Beurteilung von Filmen (sowohl bei der professionellen Filmkritik, wie im privaten Gespräch) gibt es oft extreme Unterschiede. Was dem einen großartig erscheint, findet der andere fürchterlich. Eine (es gibt noch andere) Ursache für diese Unstimmigkeiten ist in den unterschiedlichen Wirkungsebenen des Kinos zu suchen.
Das Betrachten eines Films wirkt eben nicht nur auf einer Ebene (auch wenn wir das manchmal so empfinden), sondern auf vielen verschiedenen, etwa ästhetisch (tolle Bilder, Musik und Töne), narrativ (spannende, geistreiche Geschichte), spektakulär (bombastische Action), künstlerisch (abstrakte Darstellung) oder emotionell (traurig, lustig, angsteinflößend). Unterschiedliche Filme betonen diese Eben unterschiedlich, unterschiedliche Zuschauer reagieren unterschiedlich auf die jeweiligen Ebenen, da ist es nur wahrscheinlich, dass man zu unterschiedlichen Urteilen über einen Film gelangt. Eine ganz wichtige und sehr erstaunliche Ebene des Kinos ist die Fantasieerfüllung.
Wir alle träumen von bestimmten Situationen. Manche dieser Träume sind erfüllbar, etwa der Traumurlaub, den man sich mühselig erspart oder die sexuelle Fantasie, die man endlich auslebt. Manche dieser Träume sind dagegen praktisch oder theoretisch kaum oder nicht erfüllbar, hier hilft das Kino aus.
Wer hat nicht manchmal Rachefantasien gegenüber den Bösen und Ungerechten? Wer träumt nicht davon, von einer äußerst attraktiven und sympathischen Person begehrt und umworben zu werden? Wer möchte nicht seine ablehnende Umwelt durch die eigene Leistung überwältigen (siehe etwa den berühmten Paul Potts-Moment)? Wer möchte nicht die Schwachen beschützen? Wir möchten all das aus einem ziemlich egoistischen Grund, weil wir eine Ahnung bzw. Vision von der unglaublichen emotionellen Befriedigung, die diesen Situationen innewohnt, haben. Allein die Vorstellung davon, wie es sein würde, bereitet uns ein wohliges Gefühl. Dummerweise treten solche Fantasien in der Realität so gut wie nie ein. Glücklicherweise gibt es das Kino, das uns zumindest eine gut spürbare Simulation dieser Fantasien bereiten kann.
Wenn der coole Actionstar nach endloser Demütigung seinen Gegnern mit lässigen Sprüchen die gerechte Strafe zukommen lässt, dann spüren wir die Genugtuung, die uns der Alltag verwehrt. Wenn das Schicksal auf der Leinwand attraktive Menschen in pikante Situationen zwingt (Prototyp: „Sie müssen so tun, als ob Sie meine Frau / mein Mann wären“), dann spüren wir das Kribbeln. Als Erklärung hierfür wird gerne der Begriff der Empathie bemüht, dieses Nachfühlen von fremden Emotionen mag sicher etwas damit zu tun haben, als alleinige Erklärung reicht es aber nicht. Das Phänomen der ausgelagerten Fantasieerfüllung ist um einiges komplexer, wie aktuell etwa am Beispiel des Films Arrival zu sehen ist.
Arrival ist ein sehenswerter SiFi-Film, Denis Villeneuve beweist einmal mehr, dass er atmosphärisch extrem dichte Filme (1. Ebene) machen kann, störende Untertöne (2. Ebene) wie bei seinem Sicario finde ich hier nicht, im Umgang mit (echten wie behaupteten) wissenschaftlichen Thesen (3. Ebene) macht er es in jeder Hinsicht besser als der thematisch ähnliche Interstellar, einzig das Ende des Films ist mir ein wenig zu schmalzig (4. Ebene). Neben diesen Ebenen bedient Arrival besonders markant auch die Fantasieerfüllung, hier in zwei besonders beliebten Formen, dem Spezialauftrag und dem Heldentum.
Amy Adams spielt in Arrival die unauffällige Sprachforscherin Louise Banks, die ihr unspektakuläres Fach an der Uni unterrichtet. Als Außerirdische auf der Erde landen, wird die US-Regierung mit dem notwendigen Bombast bei ihr vorstellig, um sie darum zu bitten, ihre Fähigkeiten bei der (bisher erfolglosen) Kommunikation mit den Aliens einzusetzen. Erst wird man sich nicht einig, schließlich gibt die Regierung nach, da es keine andere Alternative zu Banks gibt.
Schön erkennt man an diesem Beispiel, dass solche Fantasien zwar auf ein spezifisches Gefühl hinauslaufen, der Weg dorthin aber einer durchaus komplexen und festen Dramaturgie folgt, wobei der Weg bereits ein wichtiger Teil des Ziels ist (bei sexuellen Fantasien ist es genauso). Es reicht eben nicht, dass irgendjemand kommt und sagt „Ach kommen Sie doch mal mit und schauen Sie, was Sie da machen können.“ Nein, es muss eine Autorität sein, die mit einem Problem nicht fertig wird und darum braucht man genau diese eine Person, weil es keinen anderen bzw. keinen besseren gibt. Und darum hat diese Person auch eine gewisse Macht gegenüber der Autorität, kann sich zieren, kann Bedingungen stellen, kann sich Freiheiten herausnehmen. Und weil die Situation so dramatisch und alternativlos ist, gibt es keine Erfolgserwartung, sondern eine Erfolgshoffnung nach dem Motto „Wir wissen nicht weiter, wenn Sie helfen können, ist es super, wenn Sie scheitern, macht Ihnen keiner Vorwürfe (selbst wenn dieses Scheitern eine Katastrophe bedeutet).“ Wichtig ist auch, dass die Person und ihre spezielle, einzigartige Qualifikation, die jetzt plötzlich von fundamentaler Bedeutung ist, lange Zeit ignoriert, abgetan oder abgelehnt wurde.
In der Realität erfüllt sich diese Fantasie in dieser Form so gut wie nie, da ist man einer von vielen, die was können, deshalb kann man auch kaum Bedingungen stellen („Wenn Sie nicht wollen, suchen wir jemand anderes!“), man kann sich keine Freiheiten leisten, der Erfolgsdruck ist massiv und WEHE es klappt nicht („Ich dachte, Sie kennen sich mit so was aus?!“). Also ab ins Kino und sich wenigstens dort wohlig in dieser perfekt ablaufenden Fantasie suhlen.
Die zweite Fantasie in Arrival ist mit der ersten eng verbunden, denn der Auftrag, zu dem Banks so dringend geholt wird, ist ein dramatischer, schließlich geht es um die Zukunft der Erde. Banks ist erfolgreich, rettet (mehr oder weniger alleine) unsere Welt (wenn ich es recht verstanden habe, eine zweite obendrein) und ist somit ein klassischer Held.
Wenige Fantasien sind in unserer Kultur so verankert wie der Wunsch ein Held zu sein. Ob Odysseus, edler Ritter, James Bond oder Superman, der Traum davon, andere (wenn nicht sogar alle) zu schützen oder zu retten, ist seit Jahrhunderten eine mächtige Fantasie, die sich in der Realität ganz selten erfüllt und deshalb umso stärker in der Kunst ausgelebt wird. Inwiefern religiöse Motive vom „Weltenretter“ damit zu tun haben, müssen Theologen und Kulturwissenschaftler klären.
Die Zunft der Psychologen darf mir erklären, woher dieser unglaubliche Drang zum künstlichen (zum echten fehlt in der Regel der Mut) Heldentum kommt. Was ist die Grundlage für diese manische Sehnsucht nach grenzenloser Bewunderung und Dankbarkeit? Warum ist dieses Heldentum nur dann wirklich befriedigend, wenn es mit Dramatik verbunden ist (10.000 Menschen durch die Erfindung eines neuen Medikaments zu retten empfinden wir nicht halb so „geil“ wie einen Menschen aus einem brennenden Haus zu holen)? Und welche Faktoren sorgen dafür, dass sich bei einer Person bestimmte Fantasien in bestimmter Weise ausbilden? Nicht alle träumen davon ein Held zu sein oder eine wichtige Aufgabe übertragen zu bekommen. Wem diese Fantasien fehlen, der wird einen Film wie Arrival anders wahrnehmen als der, der seine geheimen Wünsche darin gespiegelt sieht.
Wen wundert es da, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Meinungen zu denselben Filmen haben?
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