Die Sisyphos-Debatte konkret

In meinem Blog-Eintrag Die Sisyphos-Debatte habe ich mir Gedanken über die Eigenheiten und die absehbare Vergeblichkeit der momentan (wieder einmal) mäandernden Belästigungs-Sexismus-Debatte gemacht. Zu diesem Text gibt es (von meiner Seiten) nichts zu ergänzen, da mir nun aber ein in vielerlei Hinsicht mustergültiges Beispiel meiner Ausführungen untergekommen ist, möchte ich es als Ergänzung und zur Verdeutlichung hier präsentieren.

Ich lese die Zeitschrift Unfallversicherung aktuell, diese wird von der kommunalen und der staatlichen Unfallversicherung herausgegeben und beschäftigt sich mit so schillernden Themen wie Arbeitssicherheit, Unfallvermeidung, Versicherungsschutz in Beruf und Schule, etc. Ich lese diese Zeitschrift zu einem kleinen Teil um mich zu informieren, hauptsächlich aber um mich zu gruseln und mich darüber zu wundern, welche Blüten der Sicherheitswahn noch treibt, regelmäßig liefert sie mir Stoff für diesen Blog (siehe etwa hier oder hier). In der Ausgabe 1/2018 fand ich darin einen Beitrag mit der Überschrift Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz – auch im öffentlichen Dienst ein Thema (da frage ich mich automatisch, wozu der Nachsatz gut ist. Behauptet irgendjemand, dass das im öffentlichen Dienst kein Thema ist?), was im ersten Moment verwundert, denn was hat sexuelle Belästigung mit Arbeitsschutz und Unfallvermeidung zu tun? Gar nichts, aber das spielt keine Rolle, denn wie ich im Eintrag Die Sisyphos-Debatte erklärt habe, erreicht die Sexismus-Debatte irgendwann einen derartigen Grad von Hysterie, dass man sich ihr kaum mehr entziehen kann bzw. man sich nicht traut, sich ihr zu entziehen, da man den Vorwurf des Ignorierens, Verharmlosens oder schlimmstenfalls Gutheißens riskiert bzw. befürchtet. So kommt es, dass selbst die, die eigentlich gar nichts damit zu tun haben (etwa als Unfallversicherer) etwas dazu sagen wollen / müssen. Ganz unbegründet wollte die Zeitschrift das eigentlich sachfremde Thema nicht behandeln, darum der einleitende Hinweis, dass man als Sicherheitsbeauftragter (die die typischen Leser sind) einen engen Kontakt zu den Mitarbeitern hat und so „womöglich früher als andere Kollegen [erkennt] wenn etwas nicht in Ordnung ist“.

Im Weiteren bezieht sich der Artikel auf eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS), die unter anderem aufzeigt, dass in Deutschland mehr als die Hälfte der Beschäftigten schon einmal „sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt oder beobachtet hat“. Später wird es noch konkreter, denn „(…) so gaben 49 Prozent der Frauen und 56 Prozent der Männer an, solche Übergriffe bereits erlebt zu haben. Sowohl Frauen als auch Männer sagten am häufigsten, von Männern belästigt worden zu sein.“ Da habe ich nicht schlecht gestaunt, als ich diese Zahlen (die nicht weiter differenziert wurden) las, ist es also Zeit für #mentoo? Solche Zahlen und diese Art der Präsentation sind bestens geeignet, die Sexismus-Debatte auf die nächste Eskalationsstufe zu heben. Männer erleben häufiger sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz als Frauen und die geht dann auch noch überwiegend von anderen (heterosexuellen? homosexuellen?) Männern aus; also wenn das nicht Stoff für eine polemisch geführte Diskussion ist.

Mit statistischen Angaben muss man immer aufpassen (siehe hierzu diesen Blog-Eintrag), deshalb habe ich mir sicherheitshalber die Studie der ADS, auf die sich bezogen wurde, angeschaut (ist im Internet frei verfügbar). Obwohl sich die Studie um Transparenz, Sachlichkeit und Professionalität bemüht, entkommt auch sie nicht der verwirrenden Uneindeutigkeit, die die Diskussionen zum Thema Sexismus regelmäßig zum Scheitern verurteilt.
Oben sehen Sie die originale Statistik und tatsächlich haben demnach mehr Männer als Frauen eine dem Gesetz nach verbotene Belästigung „erlebt“. Was im Artikel gefehlt hat, ist die zweite Statistik, wonach 17 % der Frauen und 7 % der Männer „nach eigenem Begriffsverständnis“ schon einmal sexuell belästigt wurden. Alleine diese Abgrenzung kann verwirren.
Und dann ist da noch die zitierte Statistik dazu, wer am häufigsten belästigt.

  

Demnach sind tatsächlich „am häufigsten“ Männer die Belästiger wobei es doch sehr erstaunliche Unterschiede darin gibt, ob ein Mann oder eine Frau eine Belästigung beobachtet oder erlebt. Sicher ist bei all dem nur eines, nämlich dass damit kein Klarheit geschaffen wird. Alleine in vier kleinen Statistiken vermischen sich gesetzlich definierte bzw. nach eigenem Begriffsverständnis erlebte bzw. beobachtete Belästigungen zu einem diffusen Ganzen, das sich mit den zugehörigen Zahlen in viele verschiedene Richtungen deuten lässt, was eine perfekte Grundlage für einen ergebnislosen Streit bietet.

Wenn ich in anderen Zusammenhängen vor einer unklaren, verwirrenden Faktenlage stehe, dann informiere ich mich weiter, oft hilft das. Am Ende des auslösenden Artikels stand passenderweise der Verweis auf den Blog der Unfallversicherung, dort gab es einen weiteren Text zum Thema Belästigung und Arbeit.
Eine Mitarbeiterin der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) liefert als Gastautorin unter der markanten Überschrift Frauen am Arbeitsplatz weitere Fakten. Demnach hat die FRA 2012 eine europaweitere Umfrage zum Thema Gewalt gegen Frauen durchgeführt, 42.000 Frauen nahmen daran teil, das wichtigste Ergebnis war, „dass ein Drittel der Frauen in der EU physische und / oder sexuelle Gewalt erlebt haben, wobei in einigen Ländern der prozentuale Anteil noch wesentlicher höher ist.“ (Hinweis zu den Gefahren der manipulativen Statistikanwendung: Wenn der Mittelwert in Europa bei 33 % liegt, in einigen Ländern aber „wesentlich höher“ ist, dann darf man nicht vergessen bzw. verschweigen, dass er in anderen Ländern zwangsläufig wesentlich niedriger sein muss). Das ist eine traurige Zahl, aber was hat sie mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu tun (schließlich ist in der Zahl auch physische Gewalt im privaten Umfeld enthalten)?
Nach einem kurzen Exkurs zum Thema sexuelle Gewalt und Migranten kommt die Autorin darauf zu sprechen und erklärt, dass nach einer Umfrage der FRA die Wahrscheinlichkeit für sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zunimmt, je höher der berufliche Status einer Frau ist, konkret schauen die Zahlen so aus: „75 Prozent der Frauen im Top-Management haben bereits sexuelle Belästigungen in ihrem Leben erfahren. Bei Frauen, die niemals berufstätig waren, liegt diese Zahl im Vergleich dazu nur bei 41 Prozent.“ Wenn erwerbslose Frauen das geringste Risiko einer sexuellen Belästigung (in ihrem Leben wohlgemerkt, nicht nur am Arbeitsplatz) haben, selbst diese Gruppe aber zu 41 % entsprechende Erfahrungen gemacht hat, dann muss in der Summe aller Frauen zwangsläufig 41 + x Prozent sexuelle Belästigung erlitten haben. Wie passt das aber zu den eingangs erwähnten 33 % (die eben auch physische, nicht sexuelle Gewalt enthält)? Wie das auch noch in Einklang mit den Zahlen der ADS zu bringen ist, fragen Sie mich bitte nicht.

Doch nicht nur die widersprüchlichen Zahlen sind in diesem Zusammenhang typisch, sondern auch die Themen- und Begriffsunschärfe. Mit fließenden Übergängen geht es um geschlechterübergreifende Belästigung am Arbeitsplatz, um Belästigung von Frauen am Arbeitsplatz, um Belästigung von Frauen generell, um (jede Form von Gewalt) gegen Frauen, um sexuelle Gewalt und Belästigung (wobei nicht klar ist, ob die Begriffe synonymisch verwendet werden), um ein Handlungsspektrum, das von Witzen mit sexuellem Bezug bis zur körperlichen Nötigung reicht, um legal definierte und persönlich empfundene Belästigung. Angesichts dieser Begriffsverwirrung wird aus der Sisyphos-Debatte schnell eine Babylon-Debatte.
Wenn aber zwei kleine Texte schon so viel Unklarheit auslösen, was soll dann erst dabei herauskommen, wenn Hunderte, Tausende, Millionen solcher Beiträge in einer riesigen, amorphen Diskussion verschmelzen?

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