Monatsarchiv: Juli 2020

Ich mag keine Filme (mehr)

Überbordende Kunstbegeisterung

Im Dezember 2015 habe ich einen Blog-Eintrag mit dem Titel Ich mag keine Musik geschrieben, in dem es nicht um die Abneigung gegenüber der Musik, sondern um eine sonderbare Marketingstrategie geht. Regelmäßig kann ich meinen Blog-Statistiken entnehmen, dass Menschen bei diesem Eintrag landen, da sie in einer Suchmaschine Aussagen wie „(ich) mag keine Musik (mehr)“ eingeben, aufgrund solcher Suchanfragen ist dieser Blog-Eintrag einer meiner zugriffsstärksten.

Lassen wir einmal die immer wieder spannende Frage außer Acht, was die Menschen wie im Internet suchen (was erwartet jemand, der bei Google „ich mag keine Musik“ eingibt? Eine Erklärung? Trost? Rat? Hilfe?) und wenden uns dem eigentlichen Thema zu, der Ablehnung bzw. Gleichgültigkeit gegenüber der Musik und anderen Künsten.
Die Aufteilung der Kunst in die verschiedenen Künste (und ihre jeweiligen Teilbereiche) ist ziemlich kompliziert, weshalb ich mich hier damit gar nicht groß aufhalten möchte. Wenn ich im Folgenden pauschale Begriffe wie Musik, Film, Theater, Malerei oder Literatur verwende, sollte jeder wissen, was damit gemeint ist.

Unter den Künsten gilt die Musik als die universellste, selbst die misslaunigsten Philosophen und Autoren, die sonst an allem was auszusetzen haben, singen gerne das Hohelied auf die Musik, so wie Schopenhauer sehen manche sie „nicht neben, sondern über den anderen Künsten“. Keine Musik zu mögen (also nichts aus ihr zu ziehen, keine emotionelle Reaktion darauf zu haben) gilt gemeinhin als unnormal, weshalb betroffene Personen sogar Hilfe im Internet suchen und dabei (fälschlicherweise) bei meinem oben genannten Blog-Eintrag oder (richtiger) auf Homepages und in Foren landen, wo offen darüber verhandelt wird, ob es so etwas wirklich gibt, wie schlimm das ist und was die Ursachen dafür sein könnten. Wenn Sie auch „darunter leiden“ und / oder sich über das Phänomen informieren wollen, geben Sie bitte in Ihre Suchmaschine nicht „ich mag keine Musik“, sondern „musikalische Anhedonie“ ein.

Damit beweist die Musik einmal mehr ihre Ausnahmestellung, denn keine andere Kunst hat für eine Gleichgültigkeit ihr gegenüber eine eigene Bezeichnung, die auch noch fast nach einer Krankheit klingt. Wenn Sie dagegen in einem Kreis von durchschnittlich gebildeten Menschen erklären, dass Sie kein Interesse an Theater oder Malerei oder Literatur haben, dann wird das vermutlich mit einem Schulterzucken aufgenommen, im schlimmsten Fall hält man Sie für (kulturell) ungebildet bzw. einen sog. Banausen, von einer „Störung“ wird aber keiner sprechen (außer den Fanatikern, die sich ein Leben ohne Theater oder Malerei oder Literatur gar nicht vorstellen können, wobei man da darüber diskutieren kann, inwiefern diese bedingungslose Begeisterung „gestört“ ist). Unterschiede gibt es aber auch hier, vor allem im Extrem. Wer verkündet, noch nie ein Buch gelesen zu haben, wird vermutlich mit anderen Augen betrachtet wie der, der nach eigener Aussage noch nie eine Theateraufführung oder Tanzperformance gesehen hat.

Weshalb Künste überhaupt unterschiedlich bewertet werden, ist genauso schwer zu erklären wie die Frage, was eine Kunst(form) ist. Im Lauf der letzten 3.000 Jahre wurden viele Disziplinen den Künsten zu- und später wieder abgerechnet, bis heute hält dieser Prozess an, wie z.B. an der Diskussion über Streetart bzw. Graffiti, Netzkunst oder die Kochkunst zu sehen ist.
Fast noch schwerer zu beantworten ist die Frage, warum sich Menschen zu welchen Künsten hingezogen fühlen und wie sich dieses Verhältnis während eines Lebens verändern kann, ein interessantes Beispiel diesbezüglich ist meine Leidenschaft für den Film.

Als Kind war ich (wie so viele) geradezu süchtig nach bewegten Bildern, was sich in endlosen Stunden vor dem Fernseher niederschlug. Angeschaut habe ich so ziemlich alles, was die wenigen Programme damals hergaben. Als Jugendlicher hat sich dann eine Begeisterung für Filme ausgeprägt, als junger Erwachsener war ich schließlich das, was man gemeinhin einen Cineasten nennt, also jemand der nie genug Filme sehen kann, der sich für alle Aspekte des Themas interessiert, der immer weiter nach dem Speziellen, Unbekannten sucht, der sich auch kritisch (bzw. als Kritiker) damit auseinandersetzt, der von einem guten Film total überwältigt werden konnte, der dieses Gefühl der Berückung immer und immer wieder wollte.

Anfang der 2000er Jahre begann diese Begeisterung Risse zu bekommen. Filme, die mir eigentlich gefallen hätten sollen (weil von einem geschätzten Regisseur gemacht und von der Kritik hochgelobt), ließen mich kalt. Anfänglich hielt ich das für „Aussetzer“, für ein persönliches Mismatch zwischen mir und diesem einen Film. Doch das Missfallen, die Gleichgültigkeit wurde immer mehr, abzulesen etwa an meinen Jahresrückblicken, in denen ich von Jahr zu Jahr weniger Filme als erwähnenswert empfand. In gleicher Weise nahm mein Interesse an dem Drumherum, an Stars, Filmschaffenden, Festivals, Filmhistorie, Legenden und Mythen ab.
Mittlerweile bin ich an dem Punkt, dass ich (auch ohne Corona) so gut wie gar nicht mehr ins Kino gehen, im Fernsehen probiere ich immer wieder (bereits bekannte wie mir neue) Filme aus, breche 70 % davon vorzeitig ab, schaue 25 % davon zu Ende ohne einen bleibenden Eindruck zu behalten und weniger als 5 % davon unterhalten oder faszinieren oder berühren oder begeistern mich in irgendeiner Weise, wobei ich selbst bei diesen meist noch etwas finde, das mich stört.

Da frage ich mich, wie das sein kann? Wie kann eine kulturelle Leidenschaft in 30 Jahren einer Parabel gleich von ganz wenig bis ganz viel bis wieder ganz wenig verlaufen? Wieso sind meine Verhältnisse zu anderen Künsten (wie der Musik oder der Literatur) in derselben Zeit praktisch unverändert geblieben? Dass es an mir liegen muss, ist unzweifelhaft, denn nicht nur neue, sondern auch viele (nicht alle) Filme, die ich früher gut fand, langweilen mich heute. Was hat sich in mir verändert? Warum betrifft diese Veränderung nur den Film aber nicht die Literatur (beides sind erzählende Künste)? Warum gibt es noch eine geringe Zahl von Filmen, die ich wirklich gut finde? Werde ich das Gefallen an diesen Filmen auch noch verlieren? Bin ich des Films überdrüssig, weil letztlich alles irgendwie (und oft besser) schon einmal da war? Warum werde ich dann der Musik nicht überdrüssig, die auch nach der tausendsten Wiederholung noch Spaß macht? Warum kann ich mit all diesen neuen Serien (also die, mit einem durchgehenden Handlungsstrang), von denen die Leute seit ein paar Jahren derart begeistert sind, überhaupt nichts anfangen? Warum habe ich aber weiterhin großen Spaß an ausgewählten Comedy- und Cartoonserien?

Kunstgenuss besteht zu einem Teil aus Intuition und zu einem Teil aus Übung. Wer mit einer unbekannten Kunstform konfrontiert wird, kann nur intuitiv einschätzen, ob ihm das gefällt. Beschäftigt er sich mehr damit, „trainiert“ er diese Kunstform, wird er immer mehr verstehen, mehr erkennen, mehr gut finden (wer hat seinen Einstieg in eine Kunstform nicht über relativ zugängliche Werke gesucht, um sich dann an die großen, komplexen Werke heranzuarbeiten). Was heißt das aber nun für mich und den Film? An der mangelnden Übung kann es eigentlich nicht liegen, schließlich habe ich jahrelang intensiv trainiert. Hat also mein intuitives Interesse nachgelassen? Oder gibt es vielleicht noch eine dritte Kraft, die hier eine Rolle spielt, z.B. blinde bzw. verklärende Begeisterung, die mir abhandengekommen ist?

Ob meine nachlassende Filmleidenschaft eine gute oder schlechte Sache ist, kann ich noch nicht abschließend sagen, der aktuelle Zwischenstand ist ambivalent. Negativ ist der Verlust eines angenehm zeitraubenden Hobbys und mancher kulturellen Anregung, positiv ist dagegen die Befreiung von Zwängen und Ängsten auf der Jagd nach dem nächsten, besten (bzw. nächstbesten) Filmereignis.

Sei es wie es sei, ändern werde ich daran nichts können, denn so viele Fragen im Vorstehenden auch offen sind, bin ich mir über eine Sache doch sicher: Eine bewusste, rationelle Entscheidung für oder gegen eine Kunstform gibt es nicht. Wie wir uns die Künste oder die Künste sich uns aussuchen, bleibt ein Geheimnis, man könnte es auch das Je ne sais commet nennen.


Auf der Jagd

Die Bestie

Einer der frühesten kulturellen Inhalte ist die Jagd. Der augenfälligste Beweis hierfür sind die noch heute zu bewundernden diesbezüglichen Darstellungen, die frühe Menschen auf irgendwelche (Höhlen)Wände gemalt und gezeichnet haben. Sprache und Gesten dagegen sind flüchtig und lassen sich erst seit ein paar hundert Jahren konservieren, deshalb kann man nur die (berechtigte) Vermutung anstellen, dass auch in den Anfängen der erzählenden Künste die Jagd ein Thema war. Wie so etwas ausgesehen haben könnte, hat mir vor einiger Zeit die Katze Mimi gezeigt.

Mimi war eine typische Hauskatze, der trotz Vollpension durch ihre Besitzer der Jagdtrieb nicht abhandengekommen war, weshalb sie regelmäßig Mäuse und andere Kleintiere „nach Hause“ brachte. An einem lauen Sommernachmittag kam sie einmal mehr mit einer erbeuteten Maus an, legte erst diese dann sich in den Schatten und tat minutenlang nichts, außer sehr zufrieden zu schnurren. Nach dieser Pause begann sie mit der toten Maus zu spielen, sie also hin und her zu werfen, sich erneut auf sie zu stürzen, sich anzuschleichen, zu ducken, usw. usf. In der Biologie geht man üblicherweise davon aus, dass Tiere spielen, um bestimmte Aktionen (Kampf, Jagd, etc.) einzuüben. Das mag grundsätzlich stimmen, im Fall von Mimi mochte diese Theorie aus zwei Gründen nicht passen. Erstens musste Mimi nicht mehr (spielerisch) lernen, wie man eine Maus fängt, sie war eine Katze mittleren Alters, die zu diesem Zeitpunkt bereits hunderte Mäuse souverän erlegt hatte. Zweitens war ihr Spiel alles andere als realistisch. Die Realität des Mäusefangens besteht für eine Katze vor allem darin, still und geduldig vor einem Loch zu hocken und im entscheidenden Moment mit einem blitzschnellen Griff das Opfer zu packen, was Mimi mir vorspielte, hatte damit nichts zu tun. Ihre wilden Sprünge, Angriffe und Kapriolen waren eine krasse Überzeichnung, eine Dramatisierung der tatsächlichen Vorgänge.

Die Katze und Schau-Spielerin Mimi

Genau so stelle ich mir die Schilderung der Jäger am „dawn of art“ vor, die zur eigenen und allgemeinen Unterhaltung aus der tristen, tagelangen Hatz auf eine altersschwache Hirschkuh einen hochdramatischen Kampf mit einem übermächtigen Mammutbullen gemacht haben. „Jägerlatein“ ist vermutlich eine sehr alte Sprache.

Die Jagd ist seitdem ein kulturelles Thema geblieben, mal ganz konkret etwa als Sujet der klassischen Malerei oder als narrative Basis in Literatur und Film (so handeln z.B. drei der bekanntesten und einflussreichsten Werke der amerikanischen Kultur von der Jagd auf einen Fisch bzw. „Fisch“, nämlich einen Wal, einen Hai und einen Marlin), mal im übertragenen Sinn, wenn es etwa um die Jagd nach (bösen) Menschen geht, wie es in unzähligen Krimis zu sehen ist. Einen interessanten Einblick in den Mythos Jagd erhielt ich nun durch den Kampf mit einer Wühlmaus.

Früher oder später macht so ziemlich jeder Gartenbesitzer einmal Bekanntschaft mit unerwünschten Bodenbewohnern, deren unterirdische Aktivitäten mindestens lästig (z.B. beim Maulwurf), meist zudem auch schädlich sind, indem z.B. Pflanzenteile (allen voran Wurzeln) angenagt werden. Einer der schlimmsten dieser Plagegeister ist die Wühlmaus, mit deren Bekämpfung ich mich vor einigen Jahren gezwungenermaßen zu beschäftigen begann.
Das Fangen von Wühlmäusen unterscheidet sich grundlegend vom Fangen von Hausmäusen, die mit den handelsüblichen Fallen selbst von ungeübten Laien mit großer Regelmäßigkeit zur Strecke bebracht werden. Um Wühlmäuse zu fangen, braucht es andere Fallen und vor allem ein entsprechendes Wissen, wobei die Frage welche Falle man wie richtig aufstellt, von den Fachleuten sehr unterschiedlich beantwortet wird, letztlich entwickelt da jeder einen eigenen „Stil“, so auch ich (für Interessierte: ich nutze vor allem die klassische bayerische Drahtfalle). Bisher bin ich damit ganz gut gefahren, wenn auch meist nicht auf Anhieb, so habe ich nach einigen Versuchen letztlich noch jede Wühlmaus erwischt.

Vor einigen Tagen stand ich wieder vor dem ärgerlichen Ausgangsszenario. In unmittelbarer Nähe eines Apfelbaumes (Wühlmäuse lieben Apfelbaumwurzeln) fanden sich kleinere Erdverwerfungen, beim Gehen sank ich immer wieder ein, was ein untrügliches Zeichen für die knapp unter der Oberfläche verlaufenden Gänge der Wühlmaus sind. Also habe ich die übliche Routine abgespult, habe die Fallen auf- und ein Bier kaltgestellt, um auf die baldige Beseitigung des Schädlings anzustoßen. Normal brauche ich zwei bis vier Anläufe, um eine Wühlmaus zu erwischen, manchmal meidet die Maus den Gang, in dem die Falle steckt, oft schiebt die Maus die Falle mit Erde zu, alles ganz normal, dann probiert man es noch einmal und irgendwann klappt es. Bei dieser Maus war es anders.

Diese Maus hatte ich auch nach dem zehnten Versuch noch nicht erwischt. Diese Maus schien unbeschadet durch Fallen hindurchgehen zu können. Diese Maus schien mich geradezu zu verhöhnen. Diese Maus schaute munter aus einem offenen Gang (in dem eine Falle steckte!), obwohl man Wühlmäuse sonst nie zu Gesicht bekommt (man kämpft hier mit einem unsichtbaren Feind). Diese Maus ließ seelenruhig Grashalme im Boden verschwinden, während ich nur einen Meter entfernt in der Erde herum grub. Diese Maus schaffte es, in einem Gang, der an beiden Seiten mit einer Falle versehen war, als „Botschaft“ ein paar Kötteln und angefressenes Gras zu hinterlassen. Am zweiten Tag meiner Jagd setzte irgendwann das Ahab-Gefühl ein.

Plötzlich glaubt man, es nicht mehr mit einem normalen Tier zu tun zu haben, vielmehr kämpft man scheinbar gegen ein besonders kluges, gemeines, hinterhältiges Exemplar. Und schon ist man dabei, das Tier zu vermenschlichen, weil man ihm menschliche Motivationen und Eigenheiten (wie Schadenfreude) unterstellt. Man beginnt es persönlich zu nehmen. Man entwickelt einen Eifer, der sich zur Besessenheit auswachsen könnte. Und schließlich staunt man, wie die Jagd nach einer profanen Maus (und eben keiner tödlichen Bestie) eine solche Dimension annehmen kann.

Am dritten Tag habe ich sie dann schließlich erwischt, es war eine ganz normale Wühlmaus, kein Anzeichen von besonderer Intelligenz oder Boshaftigkeit. Wenn Sie die Schilderung meiner Jagd gelangweilt hat, bitte ich um Entschuldigung. Die Katze Mimi hätte das viel dramatischer darstellen können.