Monatsarchiv: Oktober 2020

Böse Künstler, gute Kunst

Zwar ein Schwein, aber moralisch unbedenklich

Im Juli hatte ich hier vom unerklärlichen Verlust meiner Filmleidenschaft berichtet. Etwas Unerklärliches ist oft beunruhigend, so auch hier, denn vielleicht steckte hinter diesem Verlust ein größeres Problem, welches z.B. dazu führen würde, in gleicher Weise auch meine anderen Leidenschaften einzubüßen, bis irgendwann der typische Depressionsindikator „Interessiert sich für nichts, kann keine Freude empfinden“ aufleuchtet. Diese Befürchtung betreffend kann ich nun wohl vorsichtig Entwarnung geben, völlig überraschend und genauso unerklärlich ist mir in den vergangenen Monaten eine neue Leidenschaft erwachsen, die man knapp so zusammenfassen kann: Biographien von Personen des öffentlichen, vor allem politischen Lebens in der Zeit von ca. 1890 bis 1950 (momentan noch beschränkt auf Deutschland), von denen ich bisher absolut gar nichts wusste und die auch in der Allgemeinheit kaum bekannt sind, da sie nicht in das typische Beuteschema von Guido Knopp und Co. fallen (also kein Hitler, Goebbels, Staufenberg, Hindenburg, etc.).

Während sich meine Mitmenschen für Serien wie Babylon Berlin begeistern (die mich nur mäßig anspricht), ziehe ich mir dicke Biographien über Erich Ludendorff (dringender Aufruf an den Biographen Manfred Nebelin, doch bitte einen zweiten Teil für die Jahre 1918 ff zu schreiben!), Erwin Planck, Hjalmar Schacht, Walther Rathenau und Carl Schmitt rein. Bis vor kurzem hätte ich solche Bücher aus Angst vor Langeweile nicht mal mit einem langen Stock berührt, warum sie mich jetzt fesseln, bleibt wieder ein Rätsel. In der Biographie über Carl Schmitt bin ich dabei mit einem altbekannten Thema konfrontiert worden.

Carl Schmitt war Staatsrechtler und Autor, der sich als Wissenschaftler und Intellektueller in den 1920er Jahren höchstes Renommee erworben hatte, der sich ab 1933 vollkommen den Nazis und ihrer Ideologie verschrieb, der 1936 durch Nazi-interne Intrigen kaltgestellt (zu seinem Glück nicht kaltgemacht) wurde, in Nürnberg wurde er nach dem Krieg nur befragt aber nicht angeklagt, bis zu seinem Tod 1985 und darüber hinaus tobt(e) in den entsprechenden Kreisen ein hitziger Streit über seinen wissenschaftlich-künstlerischen Wert, seine Ideologien und Theorien, seine Verfehlungen und seine Eigenheiten. Carl Schmitt ist also ein geradezu klassisches Beispiel für das von mir u.a. in diesem Blog-Eintrag beschriebene Problem vom schlechten Menschen, der gute Kunst (oder andere Geistesleistungen) schafft.

Mit diesem Problem sieht sich auch der Biograph Paul Noack konfrontiert, sein Ringen mit diesem Konflikt brachte mir zusätzliches Vergnügen bei der Lektüre. Für Noack ist einerseits die stellenweise Brillanz und Genialität Schmitts unzweifelhaft (ich muss gestehen, dass sich mir weder die Genialität seiner bekanntesten Theorien, noch seine Formulierungskunst auch nur ansatzweise erschlossen haben, aber das will nichts heißen), andererseits lässt er keine Zweifel an der Verwerflichkeit von Schmitts Handeln und Denken an anderer Stelle, mehrmals kommt im Buch die Formulierung „Dies war/ist unentschuldbar“ vor. Wie fast immer in solchen Fällen erzeugt diese Diskrepanz zwischen kreativer Großartigkeit und moralischer Verwerflichkeit ein geistiges Unbehagen, dem Noack mit einem typischen Mittel, der Erklärung, begegnet (ein anderes ist die Negierung). Nein, er will Schmitts Verfehlungen nicht entschulden, er will nur erklären, wie es dazu kommen konnte, wie das zu verstehen und einzuordnen ist. Diese Erklärungen zeigen sehr schön zwei klassische Aspekte des schlechter-Mensch-gute-Kunst-Problems.
Erstens wie extrem schwierig es für uns ist, den Widerspruch zwischen großem Werk und zweifelhaftem Schöpfer hinzunehmen. Zweitens die Schwierigkeit, objektiv zu erklären, ohne gleichzeitig doch ein Stück weit zu entschuldigen. In der Justiz ist dieses Vorgehen gängige Praxis, dort versucht der Verteidiger natürlich zu erklären, wie es zu der unheilvollen Tat kam, um damit die Schuld des Angeklagten zu reduzieren. Außerhalb der Justiz, in gesellschaftlichen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Debatten sind diese Erklärungsversuche dagegen verdächtig, schnell wird ihnen der Versuch der Relativierung und Entschuldung unterstellt, was in diesen Zusammenhängen als unlauter empfunden wird.

Die Überlegungen, die aus der Lektüre der Schmitt-Biographie resultierten, zusammen mit Eindrücken der letzten Monate (z.B. den Skandalen um sexuelle Übergriffe in der Independent- und Underground-Musik), haben mich mal wieder über das schlechter-Mensch-gute-Kunst-Problem nachdenken lassen. Eine Antwort darauf habe ich immer noch nicht gefunden aber zumindest habe ich jetzt eine Ahnung, warum es so schwer, wenn nicht sogar unmöglich ist, eine Lösung dafür zu finden.
Die Beantwortung der Frage „Wie geht man mit guter Kunst von schlechten Menschen um?“ hängt von der Beantwortung zahlreicher anderer, komplexer Fragen ab, die keineswegs einheitlich beantwortet werden, weshalb man zu so unterschiedlichen Ergebnissen kommt. Um die Komplexität des Sachverhaltes aufzuzeigen, habe ich folgenden Fragenkatalog erstellt, den man auch als Vorlage für ein Prüfschema verwenden kann. Zur Vereinfachung werde ich im Folgenden vor allem die Adjektive gut und böse zur moralischen (also nicht qualitativen) Beschreibung von Künstler und Werk verwenden.

Welchen Unterschied macht es, wenn:
A. Der Künstler gut, die Kunst böse ist?
B. Der Künstler böse, die Kunst gut ist?
C. Künstler und Kunst böse sind?
Ist A. überhaupt möglich? Kann jemand der z.B. menschenverachtende Werke schafft, ein guter Mensch sein? Was zählt zur bösen Kunst (die Frage danach, welche Kunst moralisch verwerflich ist, ist ein riesiger eigener Komplex)? Ist B. überhaupt möglich? Kann jemand ein schlechter Mensch sein und Werke schaffen, die nicht zumindest den Funken seiner Schlechtigkeit in sich tragen? Wie bewertet man es, wenn sich ein guter zum bösen Künstler wandelt? Wie geht man damit um, dass ein böser Künstler durch seine Kunst unter Umständen viel Gutes bewirkt (hat)?

Warum werden manche Vergehen und Verfehlungen bei Künstlern als problematisch und verwerflich erachtet, während andere mit einem Schulterzucken abgetan werden und wieder andere sogar den Status des Künstlers aufwerten? Macht es z.B. einen Unterschied, ob jemand alle Menschen hasst und beleidigt oder nur bestimmte Randgruppen? Macht es einen Unterschied, ob der böse Künstler Reue zeigt oder nicht? Macht es einen Unterschied, ob der böse Künstler seine Schlechtigkeit selbst darlegt oder ob sie von anderen aufgedeckt wird? Macht es einen Unterschied, ob ein Künstler einmal bzw. vereinzelt etwas Böses getan hat oder immer wieder? Inwiefern ist ein Künstler dafür verantwortlich, sich nicht von bösen Menschen vereinnahmen zu lassen? Inwiefern machen sich Künstler mitschuldig, wenn sie das böse Handeln ihrer Kollegen ignorieren bzw. tolerieren?

Welche Rolle spielt der zeitliche Abstand? Bewerten wir die Verfehlungen, die vor hundert Jahren passiert sind anders als die der letzten Jahrzehnte? Macht es einen Unterschied, ob der böse Künstler noch am Leben oder bereits tot ist? Gibt es so etwas wie eine Verjährung, nach der man das Werk unabhängig von seinem bösen Künstler betrachten kann?

Welche Rolle spielen die zeitlichen Umstände? Wie geht man damit um, dass verwerfliche Taten in einem Umfeld geschahen, in dem diese gar nicht als so verwerflich bewertet wurden? Muss sich ein Künstler unabhängig von seinem Umfeld moralisch-ethisch immer korrekt verhalten? Wer definiert, was dieses moralisch korrekte Verhalten ist?

Wie geht man damit um, dass man von den meisten Künstlern nicht weiß, ob bzw. welche verwerfliche Taten sie begangen haben? Macht es z.B. einen Unterschied, ob jemand seinen Sexismus / Rassismus / Antisemitismus offen ausspricht oder für sich behält?

Wie erkennt man, dass die Ablehnung von bösen Künstlern und Werken nicht nur eine Form der zerstörerischen Kritik bzw. Repression ist? Unterstützt / legitimiert man durch Kunstkonsum den bösen Künstler und macht sich dadurch selbst schuldig?

Machen Sie sich den Spaß und beantworten Sie (ohne ein konkretes Beispiel vor Augen zu haben) alle vorstehenden Fragen. Dann nehmen Sie sich skandalöse bzw. skandalisierte Künstler von Richard Wagner bis Michael Jackson, von Roman Polanski bis Kevin Spacey, vom Marquis de Sade bis Ernst Jünger, von Leni Riefenstahl bis zu irgendeinem toxischen Rüpel-Rapper, von Alfred Loos bis Elia Kazan, von Morrissey bis Mark Kozelek vor und gehen an diesen Fällen die Fragen und Ihre Antworten noch einmal durch. Es würde mich wundern, wenn sich dabei ein einheitliches Bild ergäbe.

Dass die Ergebnisse dabei so unterschiedlich ausfallen, hat vor allem mit einer weiteren Frage zu tun: Wie wichtig ist mir persönlich das Werk eines bösen Künstlers?
Geht es um die sexistisch-homophoben Ausfälle eines Rappers, dessen Musik man ohnehin nicht mag, dann wird man sich leicht tun, Künstler und Werk zu verdammen. Geht es aber um einen Künstler, dessen Werke man schätzt oder gar liebt, dann wird das Urteil anders ausfallen und man fängt an, die Verfehlungen des Künstlers zu „erklären“.

Der Kern der schlechter-Mensch-gute-Kunst-Thematik ist ein grundsätzliches Problem, nämlich das, dass moralisches Empfinden sehr einfach, moralisches Handeln dagegen sehr schwer ist, was auch an unserem Egoismus liegt. Die Frage, ob wir die Bücher eines Faschisten oder Pädophilen lesen, ist ja nicht die einzige Art von moralischer Entscheidung, die wir treffen müssen. Wir müssen uns auch entscheiden, ob wir für eine zweifelhafte Person / Institution arbeiten oder durch sie Geld verdienen (z.B. durch Werbeeinnahmen), ob wir Produkte und Dienstleistungen von bösen Firmen kaufen und nutzen, ob wir generell Dinge tun, die moralisch-ethisch umstritten sind (Flugreisen, Skiurlaub, Fleischkonsum, Nutzung sozialer Medien, usw.). Hört man sich Rechtfertigungen an, weshalb Leute immer noch für einen Autokonzern arbeiten, immer noch Facebook nutzen, immer noch Massenhaltungsfleisch essen, immer noch zum Spaß Flugreisen machen, dann klingt das erstaunlich ähnlich den Erklärungen, warum es schon irgendwie OK ist, Richard Wagners Musik zu hören oder Harvey Weinsteins Filme anzuschauen.

Bertolt Brecht (dessen Verhältnis zu Frauen sehr umstritten ist) hat in seiner Dreigroschenoper Mackie Messer den berühmten Satz „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ sagen lassen. Brecht-Interpretation ist definitiv nicht meine Stärke, ich würde aber mal vermuten, dass er mit „Fressen“ die Grundbedürfnisse meint, die darauf folgenden Sätze „Erst muss es möglich sein auch armen Leuten, vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden“, klingt sehr nach sozialkritischer Forderung eines menschenwürdigen Lebens. Was Brecht nicht erwähnt (weil es ihm vermutlich aus diversen Gründen nicht ins Konzept passte), ist eine ergänzende Feststellung, die auch damals schon gegolten hat (und das nicht nur für die Reichen und Bonzen, sondern auch für die „kleinen Leute“ und wohl auch für Herrn Brecht selbst) und mit der wir uns bis heute rumschlagen: Erst kommt das Vergnügen, dann die Moral.