Monatsarchiv: Februar 2022

Verschlungene Medienwege

Wahrhaftig

Im Oktober 2014 habe ich einen Blog-Eintrag mit dem Titel OK Google, sag mir… geschrieben, auf ironische Weise beschäftige ich mich darin mit der Frage, was Tech-Firmen wie Google über mich wissen und was sie mit diesen Informationen anfangen. Siebeneinhalb Jahre sind vergangen, Google hatte weiter Gelegenheit mich auszuforschen und trotzdem kann ich nicht feststellen, dass mein Internetumfeld an meine Anforderungen oder Wünsche angepasst ist. Welch wunderliche (zum Teil analoge) Irrungen und Wirrungen es braucht, um einen spannenden Internetmoment zu erleben, zeigt folgendes Beispiel.

Letzte Woche habe ich alte Zeitungen gelesen. In der ZEIT vom 17.3.11 finde ich einen Bericht über den Barockkomponisten Jan Dismas Zelenka mit der Überschrift „Der Bizarre neben Bach“. Zelenka ist mir kein Begriff, der Artikel macht aber neugierig, als Personen eher Underdog und Außenseiter, musikalisch scheinbar genial. Um mir davon ein (Hör)Bild zu machen, bin ich einige Tage später auf youtube gegangen und habe mir seine Missa votiva rausgesucht, in der von mir gewählten Version hatte die bisher 18.000 Aufrufe. Um die Musik entspannt hören zu können, habe ich meinen PC an meine Stereoanlage angeschlossen (ich höre schon die erstaunte Frage: „Warum hat er nicht einfach übers Smartphone auf Bluetooth-Lautsprecher gestreamt?“). Die Musik hat mich sehr angesprochen, nach der Missa ließ ich ein Miserere folgen, auch das überaus gelungen.
Nach eineinhalb Stunden Barockmusik war mein diesbezüglicher Appetit dann erst einmal gestillt, so, wie nach einem herzhaften Essen oft etwas geschmacklich ganz anderes folgt (z.B. ein Dessert), war mir jetzt nach Popmusik, stilistisch eher „druckvoll“.

Dummerweise litt ich in dem Moment unter einem Searcher’s-Block. Millionen von Songs nur zwei Mausklicks entfernt und mir fiel keiner ein, den ich hätte suchen und hören können. Wo ist da der allwissende Algorithmus, der mich besser kennt als ich mich selbst und der mir umgehend das Passende vorschlägt?

Zum Glück erinnerte ich mich, einige Tage zuvor im Radio (das ich über meinen Fernseher mit Kabelanschluss höre) Killing in the name von Rage Against the Machine gehört zu haben. Der erschien passend, zur Abwechslung aber lieber in der mit Blechbläsern verstärkten Coverversion. Da mir gerade nicht einfiel, wie die Band dazu hieß, suchte ich bei youtube nach „killing in the name cover“ und schon war die gewünschte Version von Brass Against zur Hand (4 Millionen Aufrufe). Habe ich angeschaut und angehört, war genau das, worauf ich Lust hatte. Wie nun weiter? Da ich zu dem Zeitpunkt ausgesprochen geistig träge war, lautete die Antwort darauf: Mit dem Naheliegendsten, also einer weiteren Version des gleichen Liedes.

Üblicherweise halte ich gar nichts von der Vorschlagsliste von youtube, weil das darin Aufgeführte entweder total offensichtlich oder total abwegig und an meinem Interesse und Geschmack vorbei ist (dahinter steckt ein weiterer Algorithmus, der mich nicht überzeugt). In dem Moment tauchte darin auch die Version der Cobra Kai Band auf, das sagte mir gar nichts, also klickte ich auf gut Glück darauf. Das Video dazu ist ein Live-Auftritt der besagten Band im „Shakers“ in Columbus (Ohio) am 30.10.21 (also Halloween), vor mir hatten es 50 (!) Leute aufgerufen. Ich sah es mir an und erlebte einen seltenen Moment der Wahrhaftigkeit.

Einen wahrhaften Moment erlebe ich immer dann, wenn ich in den Medien oder der Kunst etwas finde, das ich zu einhundert Prozent verstehe und nachvollziehen kann, worin ich meine eigene Erfahrung wiedererkenne, was bei mir den Gedanken „Ja, genau so ist das“ auslöst.
Im Kino gibt es z.B. zahllose Szenen, in denen jemand fürchterlich verkatert nach einer feuchtfröhlich durchfeierten Nacht aufwacht. 99,9 % dieser Szenen verstehe ich verstandsmäßig, erkenne was damit gemeint ist, was damit verdeutlicht werden soll. Aber nur bei 0,1 Prozent erlebe ich Wahrhaftigkeit, verstehe und empfinde ich auf jeder Ebene, was da zu sehen ist.

Beim Video der Cobra Kai Band ist es (aus welch unerklärlichen Gründen auch immer) ebenso. Ich schaue mir das an und denke 3:40 Minuten lang: Ja, genau so ist das.
Schaue ich andere Videos, ist mir bewusst, dass ich etwas betrachte. Schaue ich dieses Video, habe ich den Eindruck, dass ich etwas erlebe. Obwohl mir nichts und niemand in dem Video persönlich bekannt ist, habe ich eine unglaublich präzise Vorstellung davon, was ich empfunden hätte, wenn ich vor vier Monaten, an Halloween, im Shakers in Columbus (Ohio) den Auftritt der Cobra Kai Band angeschaut hätte.
Wie kommt das? Ist das eine Sonderform des Deja-vus? Reihen sich hier Erinnerungen an ähnliche Erlebnisse aneinander? Oder ist die Szene so universell, so archetypisch, dass ich sie unweigerlich als vertraut empfinde?
Die anderen vier Videos von diesem Auftritt, die Kevin Graves (der Sänger der Band) auf seinem youtube-Kanal bereithält, bestätigen voll und ganz meine Empfindung nach dem ersten Sehen von Killing in the name. Jeder Schwenk ins Publikum bzw. ins Lokal, jede gezeigte Person, jede Performance der Band ist genauso, wie ich es erwarte. Es gibt auch noch Videos von anderen Auftritten, die lösen in mir nichts Besonderes aus.

Abgesehen von dem vorstehend beschriebenen Phänomen könnte ich noch viele andere Überlegungen zu dem Sachverhalt anstellen. Über Coverbands allgemein könnte ich nachdenken oder über das erstaunliche Repertoire der Cobra Kai Band (von Otis Redding über Bryan Adams bis Rage Against the Machine), die beiden „Tänzer“ aus dem Killing-Video wären eine Betrachtung genauso wert wie das gesellschaftskritische Potential des Songs (unter besonderer Berücksichtigung der hier gezeigten Umstände der Darbietung).

Sehr ausführlich könnte ich mich auch mit der Frage beschäftigen, warum dieses Video so unglaublich wenig Aufrufe hat, welche Algorithmus-Teufel dagegen dafür sorgen, dass die größten Aufmerksamkeitshaufen immer noch größer werden, warum es dieses Video dann doch auf meinen Bildschirm geschafft hat, warum es eine absurde Kette medialer Abzweigungen (beginnend bei einem alten Zeitungsartikel über einen Barock-Komponisten) braucht, um dort zu landen und warum mich Google immer noch nicht gut genug kennt, um mir solche Inhalte regelmäßig gezielt zuzuführen.