Monatsarchiv: Dezember 2022

Das Unzeigbare zeigen

Extrem verstörende Bilder

Im Blog-Eintrag Schlechte Nachrichten habe ich schon über das sonderbare Wesen der Nachrichten nachgedacht, habe gerätselt, welche Informationen zu Nachrichten erhoben und warum sie wie in den Medien dargestellt werden. Diese Überlegungen waren nicht abschließend, beim Nachrichtenkonsum fallen mir immer wieder Aspekte auf, die ich mir nicht erklären kann. Dass Nachrichten scheinbar verortet werden müssen (also vor der Nachricht ein zugehöriger Ort wie Berlin oder Cape Canaveral oder Windhoek genannt wird), gehört zu den harmloseren Punkten, der vermutlich historische Gründe hat (weil vielleicht anno dunnemals die ersten Nachrichtentelegraphen jede Meldung mit dem Ort der versendenden Station begannen oder was weiß ich). Eine weitaus befremdlichere Nachrichtentradition ist mir (leider) wieder vor ein paar Tagen begegnet.

Ich schaue Fernsehnachrichten, höre den Sprecher die Worte „Kinderpornoring“ und „zerschlagen“ sagen und weiß unmittelbar, was gleich auf dem Bildschirm zu sehen sein wird. Die Bebilderung zu Meldungen dieser Art kann verschiedene Elemente enthalten, etwa Polizisten bei Hausdurchsuchungen oder Verdächtige, die ihr Gesicht verbergen oder Polizisten / Experten, die den Fahndungserfolg erläutert oder munter blinkende Server (als Symbol für das Dark-/Internet). Ein Element dagegen muss offensichtlich enthalten sein, der verpixelte Blick auf einen Monitor, auf dem durch eine Reihe von Bildern gescrollt wird.

Wie im oben bereits genannten Blog-Eintrag Schlechte Nachrichten erläutert, verstehe ich vielfach nicht, wozu eine eigentlich eindeutige Nachricht zusätzlich (die z.T. immer gleichen) Bilder braucht. Wenn ein riesiges Aquarium platzt, dann ist das nicht alltäglich, dann will man schon sehen, wie das Ding vorher aussah und welchen Schaden der Unfall verursacht hat. Wenn die Nachricht dagegen „Schneechaos auf deutschen Straßen“ ist, weiß ich mit diesen vier Worten eigentlich alles und muss nicht noch die pleonastischen Bilder dazu sehen.

Beim zerschlagenen Kinderpornoring kommt diese eigenartige Methode nun besonders krass zum Vorschein. Eigentlich sollte jedem halbwegs denkendem Nachrichtenkonsumenten klar sein, was Kinderpornographie ist, auch wenn er eine solche noch nie gesehen hat. Um zu wissen, dass es eine abscheuliche Sache ist, muss er eine solche auch nie gesehen haben, genauso wenig wie er Folter gesehen haben muss, um zu verstehen, wie widerwärtig diese ist. Und trotzdem müssen die Fernsehnachrichten scheinbar zwanghaft den Blick auf den scrollenden Monitor zeigen, auf dem (zum Glück) überhaupt nichts zu erkennen ist. Warum? Was soll etwas verdeutlichen, das man nicht sieht, nicht sehen darf? Wenn eine grausam entstellte Leiche gefunden wird, zeigen die Medien (zumindest die halbwegs seriösen) auch keine Bilder davon, auch keine verpixelten, im ersten Fall weil es obszön ist, im zweiten Fall, weil es nichts bringt (nach dem Betrachten einer bis zur Unkenntlichkeit verpixelten Leiche ist man so klug wie zuvor).

Warum also der verschleierte Blick auf den Monitor der Kinderschänder? Geht es hier um eine bizarre Legitimation der Nachricht, nach dem Motto „Ja, es ist wahr, die Bilder existieren wirklich, wir Reporter haben sie gesehen, nur euch dürfen wir sie nicht zeigen“? Oder soll dieses Scrollen einfach nur die meist riesigen Daten- und Bildermengen, die gefunden wurden, verdeutlichen? Ist das, was hier unkenntlich über den Bildschirm flimmert, wirklich das, worum es in der Nachricht geht oder ist es irgendein total unverfängliches Bildmaterial? Wie muss ich mir das Zustandekommen dieser Aufnahmen vorstellen? Der Journalist sucht selber im Netz nach dem entsprechenden Bildmaterial und filmt es ab? Oder die Polizei lädt zur Präsentation des Fahndungserfolgs ein und zeigt stolz „Kucken Sie mal, was wir beschlagnahmt haben. Natürlich dürfen Sie das filmen, aber bitte vor der Ausstrahlung unkenntlich machen.“? Macht sich der Kameramann / Journalist mit dem Abfilmen der Bilder nicht strafbar? Also doch beliebiges Stockfootage und das so weit verpixeln, bis kein Mensch mehr was darauf erkennt (siehe oben)?
Leider kann ich bei meinen Überlegungen nicht ausschließen, dass diese Pixelbilder auch (noch) einen ganz anderen Grund haben, nämlich (perverse?) Schaulust.

Ganze Bibliotheken können Sie mit den Abhandlungen über die menschliche Schaulust füllen. Warum gaffen wir bei Unfällen, warum linsen wir beim Horrorfilm durch die Finger vor unseren Augen, warum haben selbst bzw. gerade obszöne, abscheulich, abstoßende Bilder (visuelle wie gedankliche) eine solche Anziehungskraft? Die Erklärungsansätze der Psychologen diesbezüglich sind weit gefächert, selten wird den Menschen generell Abartigkeit attestiert, oft geht es dann um Themen wie Bewältigungsmechanismen o.ä.. Dieser Schaulust tragen die Medien und damit auch die Nachrichten ein Stück weit Rechnung, weshalb sich selbst die als seriös bezeichneten Nachrichten immer auf einer schmalen Grenze bewegen, welche Abscheulichkeit sie wie zeigen können / wollen / sollen, ein markantes Bespiel hierfür war etwa der Folterskandal von Abu Ghraib.

Sind nun die Medien schuld, weil sie mit diesen anziehend abstoßenden Bilder nach unserer Aufmerksamkeit fischen? Oder sind die Konsumenten schuld, weil sie nicht von diesen Bildern lassen können? Die oben genannten Abhandlungen zur Schaulust beschäftigen sich ausführlich auch mit dieser (vermutlich unlösbaren) Frage.

Ob die schrecklichen Bilder notwendig für das Verständnis einer schrecklichen Sache sind, scheint mir fraglich. Eine der wichtigsten Eigenschaften des Menschen ist seine Fähigkeit zur Abstraktion, er muss nicht alles sehen, um es zu verstehen. Wenn ich Ihnen erzähle „Ich habe auf einer blühenden Wiese einen weißen Hasen gesehen“, dann haben Sie unmittelbar ein Bild davon im Kopf. Dieses Bild ist sicher ein anderes als das in meinem Kopf (das wieder ein anderes ist als die von mir beobachteten Ereignisse), aber es reicht, damit sie die Information verstehen und verarbeiten können, ich muss Ihnen hierfür kein Bild des konkreten Vorfalls zeigen und auch keine „Nachinszenierung“. In den Nachrichten traut man dieser (wie sie so schön heißt) Vorstellungskraft der Menschen nicht. Dort muss man scheinbar auch das Offensichtliche immer wieder zeigen, selbst wenn es unzeigbar ist.

Dass es auch anders geht, zeigt z.B. die Doku Die Kinder von Lügde, die die „richtigen“ Bilder findet, um von einer scheußlichen Sache zu erzählen.